Das Necronomicon – Der Bericht des Arabers

Die Last auf meiner Seele in Damaskus

Der Wind, der in den Gassen von Damaskus weht, trägt den Geruch von Myrrhe, Gewürzen und der Hoffnung der Gläubigen in sich. Er streichelt die Mauern der Großen Umayyaden-Moschee, die von den besten Baumeistern dieser Erde errichtet wurde, und er flüstert in den geschäftigen Karawanenstraßen von fernen Märkten und unzähligen Händlern. Es ist ein Wind, der erfüllt ist von den Dingen der Menschheit. Doch in meiner Seele spüre ich einen anderen Wind, einen, der aus den endlosen, leeren Weiten der Wüste zu mir gefunden hat und mir von dem raunt, was jenseits der menschlichen Vorstellungskraft liegt. Ich, Abdul Alhazred, der mancherorts als Dichter, an anderen Orten als Gelehrter bezeichnet wird, bin nicht hier, um die Chroniken der Kalifen niederzuschreiben oder die Poesie der Antike zu kommentieren. Mein Zweck ist vielmehr, die unerträgliche Last der Wahrheit von meinem Geist zu nehmen, eine Wahrheit, die ich in dem größten Unglück meines Lebens entdeckt habe und die mich fortan nicht mehr losgelassen hat.

Ich sitze, wissend, dass dies die letzten Jahren meines verfluchten Lebens sein werden, in dieser Stadt, die ein strahlendes Zentrum der Welt ist. Unter meiner Hand schreibe ich das nieder, was die Menschen, die noch den süßen, friedlichen Illusionen ihrer Existenz anhängen, niemals erfahren dürfen. Ich gebe diesem Werk einen Namen, den nur mein Geist zu tragen vermag, einen Namen, der meiner ersten großen Offenbarung entsprang, Al Azif.

Die Gelehrten hier, mit ihrer oberflächlichen Weisheit, die nur auf das Hier und Jetzt beschränkt ist, würden dieses Buch in den Händen halten und anhand des Titels nicht viel mehr vermuten, als dass ich Studien über die Geräusche von Insekten niedergeschrieben hätte. Doch ich weiß es besser. Ich habe zu lange der Stille der Wildnis gelauscht, um nicht die tiefere, die kosmische Bedeutung des Azif zu verstehen. Es ist das Heulen von Dämonen, die in der Nacht über unsere Welt hinwegfegen, doch wahrnehmen tut es nur, wer wirklich hinhört. Der Klang ist die Essenz des kosmischen Horrors, der die dünne Schale unserer Realität durchdringt und uns die schreckliche Wahrheit über unsere wahre Natur verrät. Ich schreibe nicht um des Ruhmes willen, denn die einzige Anerkennung, die ich suchen kann, ist die vollständige innere Zerstörung, die sich meiner annimmt, um das Zeugnis zu beenden.

Der Pfad des Suchenden

Ich kam zur Welt in den staubigen Gassen von Sanaa. Schon als Junge war meine Seele von einer unheilbaren Rastlosigkeit erfüllt, die sich von den gängigen Pfaden abwandte. Meine Verwandten, die eine neue Religion annahmen, fanden Trost in einem Gott, der, wie sie behaupteten, über die Menschheit wacht und sich um sie kümmert. Sie sprachen von ihm als dem Allmächtigen, und doch schien er mir in seiner Herrlichkeit zu menschlich, zu klein, um die unendlichen Tiefen des Kosmos zu fassen. Ihr Glaube war eine menschliche Erzählung für eine menschliche Welt, aber meine Seele suchte nach einer größeren Wahrheit.

Ich spürte, dass meine eigene Identität ebenso losgelöst war wie meine Seele. Es ist, als hätte das Universum bereits eine Prophezeiung für mein Schicksal gefällt. Ich war von Grund auf ein Fremder, ein Außenseiter, der sich nach etwas sehnte, das außerhalb der Grenzen der menschlichen Welt und der Gesetze der Natur liegt. Diese innere Leere, dieses Gefühl des Fehlens einer tieferen Bedeutung, war es, das mich auf meinen Weg führte.

Meine Suche nach Antworten trieb mich fort von meiner Heimat. Ich reiste durch die Wüsten und Länder des Ostens. In meiner Rastlosigkeit suchte ich Trost in den Ruinen alter Reiche, die längst in Vergessenheit geraten sind. Ich pilgerte zu den Überresten von Babylon, jener mächtigen Stadt, die einst als ein Weltzentrum für Handel und Industrie galt. Dort fand ich nicht die Pracht und Herrlichkeit, von der die alten Schreiber berichteten, sondern nur noch zerfallene Mauern aus Lehmziegeln und staubige Überreste von einst großen Palästen. Die Straßen, die einst mit Prozessionen und Feierlichkeiten gefüllt waren, waren nun von einer unheimlichen Stille erfüllt, die nur durch das Knirschen des Sandes unter meinen Füßen unterbrochen wurde.

Danach begab ich mich nach Memphis, der einstigen Hauptstadt Ägyptens. Doch auch hier fand ich nichts, das meine Seele mit Weisheit oder einem Sinn für die menschliche Geschichte hätte erfüllen können. Ich wanderte durch diese gewaltigen, menschengemachten Ruinen, die die Vergänglichkeit der Menschheit auf beeindruckende Weise demonstrierten. Und doch spürte ich dort etwas, das unendlich viel älter war als die Pyramiden. Es war ein Gefühl des Schreckens und der kosmischen Bedeutungslosigkeit, das sich in den Staub gehüllt hatte. Ich bemerkte, dass die Überreste der menschlichen Reiche mir nur eine Ahnung von etwas ganz anderem gaben: Die großen Imperien, die auf dieser Erde gegründet worden waren, waren nur ein flüchtiges Schauspiel vor einem Hintergrund, der viel älter und weit beängstigender ist, als es die menschliche Geschichte zulassen würde.

Die Wache im leeren Viertel

Die Erkenntnis aus meiner Reise zu den Monumenten des menschlichen Hochmuts trieb mich tiefer in die Isolation und schließlich in die Wüste, die Roba-el-Khaliyeh genannt wird, das leere Viertel. Zehn lange Jahre verbrachte ich allein an diesem Ort, der von den Beduinen als Wohnstätte von Geistern und Monstern betrachtet wird. Diese Periode war nicht nur eine physische Isolation, sondern vielmehr auch eine Form der Askese, die ich mir selbst auferlegte. Ich wollte die Wahrheit finden, die sich jenseits der menschlichen Zivilisation befindet. Der rote Sand der Dünen und die unendliche Weite ohne jede menschliche Spur dienten als perfekte Leinwand für meine Seele. Die Wüste ist ein Spiegel der kosmischen Leere, die das Universum ausmacht.

In der unheimlichen Stille der Wüste bemerkte ich die subtile Verschiebung meiner Wahrnehmung. Was für die Menschen in den Städten der Klang der Nacht ist, wurde für mich zu etwas anderem. Zuerst war es nur eine vage Ahnung, ein unbestimmtes Gefühl. Doch mit der Zeit wurde es zu einer unaufhaltsamen psychologischen Transformation. Die gewöhnlichen Geräusche der Natur, das Heulen des Windes, das Summen der Käfer, die Schritte von kleinen Tieren im Sand – all dies verlor seine natürliche Bedeutung. Mein Geist begann, die Geräusche als eine Form der Kommunikation zu verstehen, als eine Sprache des Grauens. Dies war die erste zarte Berührung eines fremden Geistes, der sich in meine Seele schlich. Ich hörte die Wesen, die die Beduinen fürchteten, doch sie waren keine Monster, sondern die kosmischen Echos des Universums, die mich an die Hand nahmen und zu den tiefen Wahrheiten führen sollten, die ich suchte.

Die namenlose Stadt der Alten

Viele Jahre waren schon vergangen, als meine Suche vorerst ein Ende finden sollte. Ich stieß in der Wüste auf eine Ansammlung von Steinen, die kaum von gewöhnlichen Felsen zu unterscheiden war. Doch etwas in der Geometrie, etwas, das gegen die Gesetze der normaler menschlichen Architektur verstieß, zog mich wie magisch zu dem Ort. Was ich zunächst bloß für Steine hielt, stellte sich als Überreste einer Stadt heraus, welche jedoch auf keiner Karte zu finden war. Je näher ich auf die Ansammlung zuging, desto mehr konnte ich von der Stadt erkennen, die hinter den Steinen, welche ich aus der Ferne erblickte, verborgen war.

Die Ruinen waren ein direkter Kontrast zu jenen, die ich einst in Babylon und Memphis gesehen hatte. Während die dortigen Überreste von der Vergänglichkeit sprachen, war diese Stadt von einer ewigen, grauenhaften Bedeutung erfüllt. Die Stadt war scheinbar wenig für menschliches Leben geeignet, mit niedrigen Decken und schmalen Gängen, die wirkten, als seien sie für eine andere Spezies konzipiert worden. Ich erkannte, dass diese Stadt älter war, als alles, was ich je zuvor erblickt hatte. Die Architektur war nicht von menschlicher Hand geschaffen worden. Ihre Strukturen entsprangen einer Geometrie, die sich dem menschlichen Verstand entzieht, einer Geometrie, die die Grundlage unseres Universums in Frage stellte.

Die Mauern, die ich betrachtete, waren von einem unnatürlichen Glanz überzogen. In den Fugen des Gesteins lag ein schwaches, fast lebendiges Leuchten, als ob in den Tiefen der Steine ein Feuer schlummerte, das älter ist als die Sterne. Ich wagte es, durch die schmalen Gänge zu schreiten, die sich wie ein Labyrinth erstreckten und teils durch Sand verschüttet waren. Mit jeder Wendung schien die Stadt tiefer in die Erde zu sinken, und der Sand wich schwarzem, poliertem Stein, der so glatt war, als hätten unvorstellbar mächtige Hände ihn geformt.

Die Luft wurde schwer, und doch trug sie einen Rhythmus in sich, als ob die Mauern selbst atmeten. In dieser Stadt gab es keine Inschriften, die die Hand eines Menschen verraten hätten, keine Symbole, die ich mit bekannten Sprachen hätte vergleichen können. Stattdessen waren es Zeichen, die eher wie Spuren von Krallen wirkten, als ob fremde Kreaturen ihre Präsenz hinterlassen hätten. Ich legte meine Hand auf eine dieser Vertiefungen und spürte, dass sie warm war, als sei sie eben erst geformt worden.

Mein Geist begann, sich zu verdunkeln, als ich tiefer in die Stadt drang. Zeit verlor jede Bedeutung. Ob ich Stunden oder Tage umherirrte, kann ich nicht sagen, doch jedes Mal, wenn ich glaubte, am Ende eines Ganges angelangt zu sein, öffnete sich vor mir ein neuer, noch tieferer Schacht. Dort vernahm ich zum ersten Mal die Stimmen klarer. Sie waren nicht mehr bloß das Flüstern des Windes – sie waren Worte, die ich verstand, obgleich sie in keiner mir bekannten Sprache gesprochen wurden.

Sie erzählten mir von Wesen, die vor der Menschheit wandelten, von Herrschern, deren Größe in kein Menschenmaß passt. Sie nannten mir den Namen Yog-Sothoth, das Tor und der Wächter des Schlüssels. Ich erkannte ihn nicht mit den Augen, doch in meinem Geist sah ich ein Licht, das heller brannte als tausend Sonnen und zugleich schwärzer war als das Nichts.

Begegnungen mit dem Ungreifbaren

Ich irrte weiter umher und gelang schlussendlich, wie durch eine unsichtbare Kraft gelenkt, zu einem gewaltigen Saal, dessen Decke so niedrig war, dass ich mich bücken musste, obgleich die Mauern in unendliche Weiten führten. Vor mir stand ein schwarzer Obelisk, überzogen mit Symbolen, die mein Verstand nicht fassen konnte. Sie flackerten und bewegten sich wie Lebewesen, und als ich länger hinsah, ergriffen sie meinen Geist.

Als ich weiter auf den Obelisken zuschritt überkam mich ein Drang, den ich nicht als meinen eigenen bezeichnen kann. Meine Lippen bewegten sich, ohne dass mein Wille sie dazu brachte. Worte, die in keiner menschlichen Kehle geformt werden sollten, entströmten mir in krächzenden Silben: Ph’nglui – mglw’nafh – Yog-Sothoth n’ghaee. Ein Flüstern, das sich wie Öl über meine Zunge legte.

Der Boden begann zu beben. Aus den Ritzen des Steins drang ein kaltes Leuchten, das mich in einen Kreis von unstetem Licht hüllte. Der Obelisk schien zu atmen, und das Wispern der Stimmen wurde zu einem Chor, der meine Ohren erfüllte, bis ich schrie. Ein Bild brannte sich mir ein: Tore, zahllos und unendlich, die im Leeren schwebten, und dahinter Gestalten, deren Umrisse die Naturgesetze verhöhnten. Eine dieser Gestalten wandte sich mir zu, und in jenem Moment wusste ich, dass ich von nun an ein Diener sein würde, ob ich es wollte oder nicht.

Mit einem Mal verstummte alles. Ich lag allein im Staub, das Licht erloschen, der Obelisk stumm. Nur mein Körper zitterte noch, und mein Herz schlug, als hätte es den Rhythmus einer fremden Trommel angenommen. Seit diesem Augenblick weiß ich, dass die Wesen mich kennen – und dass mein Name in ihrer Sprache ausgesprochen wurde, lange bevor ich geboren war.

Ich floh, als mein Geist beinahe zerbrach. Mit blutig aufgeschlagenen Knien stolperte ich durch die Gänge zurück ans Licht der Sonne. Doch die Stadt ließ mich nicht los. Noch heute, wenn ich die Augen schließe, spüre ich ihre Atemzüge unter dem Sand. Noch heute höre ich das Flüstern ihrer Stimmen, wenn der Wind über die Mauern von Damaskus zieht. Meine Seele war von diesem Tag an vollständig von der Kenntnis der unaussprechlichen Wahrheit besessen, und das ist mein persönlicher Fluch.

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